Beatrix von Kalben
Das Orkantief „Ela“ verwüstet in der Nacht von Pfingstmontag 2014 weite Teile des Rheinlands und Ruhrgebiets. Sechs Menschen verlieren bei dem schweren Unwetter ihr Leben. Es entsteht ein Millionenschaden.
Allein in Essen werden 20.000 Bäume durch Blitz und Orkan zerstört, Schäden in der Höhe von 62,5 Millionen Euro entstehen. Feuerwehr und ehrenamtliche Helfer sind wieder unermüdlich im Einsatz. Doch dieses Mal packen spontan auch Essener Bürger bei den Aufräumarbeiten mit an.
Gründung der Facebookgruppe „Essen packt an!“
Initiator ist der 29-jährige Tobias Becker. Er gründete die Facebookgruppe „Essen packt an!“ Wie kam er auf diese ungewöhnliche die Idee?„Bei uns konnte man mit dem Auto nicht mehr fahren und ich musste mit dem Rad zur Arbeit und auf dem Rückweg mit dem Fahrrad sind mir die Menschen aufgefallen, die vereinzelt versucht haben etwas aufzuräumen und dachte mir, es wäre ja schön, wenn man sich zusammenschließen könnte und dem entsprechend gemeinsam die Schäden beseitigen kann. Hab meinen Rechner angeschmissen, Facebook aufgemacht, die Gruppe gegründet und gehofft, dass die Leute anfangen sich gegenseitig zu helfen. Nach circa sechs Tagen waren es tatsächlich 4500 Menschen, es kamen auch immer welche dazu, sind wieder welche weggegangen, aber das ist die stabile Zahl.“
„Essen packt an!“ und die Stadt Essen
Die Mitglieder der Facebook-Gruppe „Essen packt an!“ organisierten sich in Teams. Bis zu 1600 Spontan-Freiwillige waren in ihrer Stadt im Einsatz. Mit der Stadtverwaltung gab es allerdings kleine Anlaufschwierigkeiten, erklärt die Pressesprecherin der Stadt Essen:„Zu Beginn gab das eine oder andere Kommunikationsproblem. Denn es ist ja nicht zu selbstverständlich und alltäglich, dass sich so eine Gruppe über Facebook gründet und sich dann komplett organisiert, losgelöst von der Stadt.“
Forschung zu Einsatzmöglichkeiten von Social Media in Katastrophenfällen

Stefan Martini, Bergische Universität in Wuppertal, Institut für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
An der Bergischen Universität Wuppertal erforscht Stefan Martini, unterstützt von seinem Assistenten Ramian Fathi, die Einsatzmöglichkeiten von Social Media Portalen in Katastrophenfällen. Er kennt die Probleme mit den Spontanhelfern. Stefan Martin erklärt: „Die Frage ist,wie binde ich Spontanfreiwillige ein. Wie soll ich etwas einbinden, das ich eigentlich gar nicht kenne. Dazu ist unsere Lösungsidee, dass man sich im Vorhinein überlegen muss, welche Spontanfreiwilligen gibt es, welche Aufgaben kann ich den Leuten übertragen und über welche Möglichkeiten verfügen die einzelnen Personen. Natürlich kann ich das auch vorher abfragen in einem Portal für mögliche Katastropheneinsätze, was jede Stadt einrichten könnte. Dort könnten sich mögliche Ansprechpartner präsentieren und die Bürger sich als mögliche Spontanhelfer eintragen. Dazu haben wir jetzt ein Formular entwickelt, was wir jetzt beüben wollen und dann in einem Forschungsprojekt weiter entwickeln wollen.“
Versicherungsschutz für Spontanfreiwillige?
Die freiwilligen Helfer von “ Essen packt an“ schrecken auch vor gefährlichen Aufgaben nicht zurück. Sie klettern auf Bäume in schwindelerregenden Höhen, bedienen Kettensägen…Da stellt sich die Frage des Versicherungsschutzes. In Deutschland eine wichtige Frage. Nicole Mause, die Pressesprecherin der Stadt Essen meint hierzu: „Es gibt zwar eine entsprechende Versicherung über das Land Nordrhein-Westfalen, aber in welchen Fällen die greift oder nicht greift, würden wir gerne noch weiter prüfen lassen.“
Zusammenarbeit zwischen Stadt und Spontanfreiwilligen
Das Wichtigste für die Zukunft ist jedoch: Stadt und Bürger mussten eine gemeinsame Sprache finden. Die Vermittlungsarbeit zwischen Stadt und Spontanfreiwilligen übernahm in Essen Markus Pajonk. Er organisierte die Arbeiten von „Essen packt an!“, kurz EPA. Er erklärt: „Schwierig war es, das Zahnrad zu spielen zwischen städtischem Amtssprachgebrauch und dem Sprachgebrauch der vielen Menschen, die draußen waren, die aus verschiedenen Kreisen kommen, einmal Hartz IV- Empfänger oder auch Manager, die Vorort waren. Alle diese Menschen haben einen anderen Sprachschatz. Das dann übereinander zu bekommen und immer wieder klar zu machen, dass die Sicherheit als Erstes kommt und dann erst die Grünpflege, das war anstrengend.“
Schulungsbedarf für Führungskräfte
Der Forscher Stefan Martini von der Uni Wuppertal – Institut für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe – meint zu dieser Problematik:„Aus meiner Sicht zeigt sich hier ein Schulungsbedarf der Führungskräfte der öffentlichen Stellen, sie müssen sich Methoden überlegen wie Spontanfreiwillige anzusprechen und einzusetzen sind. Hier muss man andere Wege gehen als mit regulären Ehrenamtlichen, bei denen man eine hierarchische Struktur hat. Hier gibt zum Beispiel die Möglichkeit von sich selbst organisierenden Zellen, das heißt, dass sich die Spontanfreiwilligen selber organisieren und dann im Rahmen einer Zielkommunikation mit den Führungskräften zusammenarbeiten, also die Führungskräfte geben den Weg vor und die Spontanfreiwilligen organisieren sich innerhalb diese Weges selber. So wie man es in Essen gesehen hat.“
Motivation der Spontanfreiwilligen
Die Motivation der vielen Helfer von „Essen packt an!“ war unterschiedlich. Detlef Keller, liebevoll „Vattern“ genannt, arbeitet im Team „Bürgermeister“. Er erklärt: „Ich will, dass Essen wieder schön wird, aufgeräumt, das ist doch trostlos, wenn man das so sieht.“ Detlev Keller ist Bäckermeister und arbeitslos, er erhält Hartz IV.. Durch EPA fühlt er sich wieder gebraucht und ist glücklich bei der Arbeit. Für Melanie Kröger, „Mutti“ genannt, vom Team „Frillendorf“ ist das Wichtigste, dass ihre Kinder auf den Spielplätzen wieder ohne Gefahr von herabstürzenden Ästen spielen können. Deswegen arbeitet auch ihr sechsjähriger Sohn Kilian mit, der stolz erzählt: „Ich schleppe Bäume, aber richtig schwere, egal wie schwer. Und wenn die zu schwer sind, dann frage ich einfach andere, ob die mir helfen.“ Dass er auch alleine Sägen durfte, war ein weiteres Highlight für den Jungen. Michael Kall vom Team Frillendorf dagegen ist Versorger. Er hat sich um die Verpflegung des Teams Frillendorf gekümmert, da er den ganzen Tag als Gabelstapler-Fahrer arbeitet. Wie zu EPA gekommen ist, erklärt er so:„Ich bin in Facebookund da habe darin gelesen: Essen packt an. Da habe ich mich dafür freiwillig gemeldet. Und bin seitdem bei Team-Frillendorf. Und ich bin ja auch beruflich am Arbeiten, deswegen packe ich trotzdem mit an.“
Was mit Social Media möglich ist
Der Forscher Stefan Martinifasst zusammen: „Vielleicht hat man es an der einen oder anderen Stelle schon gemerkt und gesehen, dass die meisten Menschen oder Städte gar nicht wissen, was in Social Media überhaupt möglich ist, wie sie die Social Media Plattformen gerade in Katastrophenfällen sinnvoll nutzen können. Das heißt 4000 Leute, die mir Informationen geben können, da muss ich erst einmal drauf aufmerksam werden, dass es das überhaupt gibt. Das heißt, einerseits, muss ich Führungskräften sagen, was ist möglich, andererseits, wie setze ich es konkret ein.“
Feldversuch bei der Freiwilligen Feuerwehr in Essen
Dafür startet Stefan Martini einen Feldversuch bei der Freiwilligen Feuerwehr in Frechen.Jungfeuerwehrmänner suchen in dieser Übung in ganz Frechen verteilt fiktiv umgestürzte Bäume nach einem Orkan. In Zukunft will mandie Bürger nach einer Katastrophe dazu aufrufen,Fotos und Information zu Schäden und Gefahren in ihrer Stadt unter einem bestimmten Hashtag wie zum Beispiel #Frechensturmin den Sozialen Medien zu posten. So könnten die Einsatzkräfte der Feuerwehr unterstützt und entlastet werden. In der Leitzentrale der Freiwilligen Feuerwehr werden die eingehenden Fotos und Informationen der jungen Feuerwehrmänner zu möglichen Schäden in Frechen unter dem Hashtag #Frechensturm gesammelt und damit eine Karte erstellt. Die Feuerwehrmänner lernen bei dieser Übung die eingehende Fotos, Schadens- und Ortsangaben auf den sozialen Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram zu findenundsinnvoll einzuordnen. Ramian Fathi, der Assistent von Stefan Martini, erklärt die Arbeitmit einem Bespiel: „Wenn wir sehen, dass ein Baum auf der Straße liegt, die die Hauptzufahrtsstraße zum Krankenhaus ist, wissen wir, dieser Baum muss ganz schnell beseitigt werden und geben das an die Einsatzkräfte weiter. Wir kategorisieren hier alle eingehenden Fotos und Informationen aus der „Bevölkerung“, um sie der Einsatzleitung der Feuerwehr im Anschluss zur Verfügung zu stellen.“Die sozialen Netzwerke bieten die Chance, das „Know How“ von Bürgern und Feuerwehr im Katastrophenfall zukünftig schnell und gewinnbringend zu verknüpfen.
Dank von Stadt und Land
Die Spontanfreiwilligen von „Essen packt an!“ sind inzwischen von der Landesregierung und der Stadt Essen für Ihr freiwilliges spontanes Engagement geehrt worden. Stadt und Land haben den Bürgern gedankt. Gründer Tobias Becker und Organisator Markus Pajonk werden zu diversen Fachkongressen zum Thema Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eingeladen, um dort über ihren Einsatz zu referieren. Stefan Martini und Markus Pajonk stehen in engem Kontakt, um die Arbeit in Essen wissenschaftlich auszuwerten und nach konkreten Verbesserungsmöglichkeiten in der Zukunft zu suchen. Viele Spontanfreiwillige sind ehrenamtlichen Organisationen wie dem „Roten Kreuz“ oder der „Freiwilligen Feuerwehr“ beigetreten, um ihre ehrenamtliche Arbeit weiter fortzuführen. Die Arbeitsagentur in Essen hat die arbeitslosen Spontanfreiwilligen von „Essen packt an!“ gebeten sich zu melden, um sie forciert in neue Anstellungen zu vermitteln.
Der Beitrag zum Thema bei 3Sat: http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=45825